Skip to main content

Verlorene Seelen und hoffnungslose Fälle

 Leonora Asker, die Protagonistin von Anders de la Mottes "Stille Falle" könnte in mancher Hinsicht eine Verwandte von Lisbeth Salander aus der "Milleniums"-Reihe sein. Zwar hat sie kein Asberger Syndrom und ist auch keine Hackerin, sondern Polizistin, aber auch sie ist geprägt  von einer Kindheit, die nicht gerade schwedischem Durchschnitt gehört und einer dysfunktionalen Familie. Und sie verfügt über erstaunliche Überlebenstechniken, die sie ihrem Prepper-Vater zu verdanken hat.

Leos Aufstieg in der Abteilung für Kapitalverbrechen wird jäh gebremst, als ein ehemaliger Vorgesetzter - und Ex-Lover - aus Stockholm zurückkehrt. Er übernimmt die Ermittlungen in einem Vermisstenfall um eine Unternehmertochter, der eigentlich Leos gewesen wäre. Statt dessen landet die Ermittlerin als vorläufige Abteilungsleiterin im "Dezernat für hoffnungslose Fälle". Ziemlich hoffnungslos, zumindest aber seltsam, erscheinen ihr die neuen Kollegen, die eher sinnlose Selbstbeschäftigung betreiben.

Dann aber  erhält Leo das Foto einer Miniaturlandschaft - es stellt eine Szene dar, die frappant an den letzten Instagram-Post der vermissten jungen Frau erinnert. Die eigentlichen Ermittler haben sich schon an eine Theorie festgeklammert: Der Ex-, dann doch wieder Freund der Unternehmertochter, Sohn iranischer Einwanderer, hat sie in der Gewalt, soll er doch Kontakte zum kriminellen Milieu haben. Doch dann erweist sich  diese Theorie aufgrund neuer Umstände als offensichtlich falsch.

Leo unterdessen stellt heimlich eigene Ermittlungen an. Sie ist überzeugt: Ihre Kollegen haben sich vorschnell auf den falschen Verdächtigen festgelegt. Doch bis diese das erkennen, hat sie bereits festgestellt, dass in die Miniatureisenbahnanlage einer Kleinstadt Figuren und Szenen eingeschmuggelt wurden. Auch ihr Amtsvorgänger war diesem Phänomen offenbar auf der Spur, als er versuchte, den Verbleib seiner seit Jahren vermissten Patentochter zu klären. Leider liegt er nach einem Herzinfarkt im Koma, so dass Leo ihn nicht kontaktieren kann. Sie ist aber überzeugt: Ein unbekannter Täter prahlt mit Entführungsfällen.

 Die Leser von "Stille Falle" wissen schon früh: Die Unternehmertochter ist bei der geplanten Expedition in einen "Lost Place" entführt worden. Sie versucht nun, in einem dunklen Versteck, mehr über ihren Entführer und ihren Aufenthaltsort zu erfahren, womöglich zu fliehen. Und auch der geheimnisvolle "Troll" mit seiner unterirdischen Welt wird in einem eigenen Erzählstrang vorgestellt.

Dieser Wissensvorsprung der Lesenden  ist allerdings trügerisch, denn es gibt noch manche Überraschung sowohl für Leo wie auch für die Leser. Die Ermittlungen führen die Polizistin auch in die eigene Vergangenheit und einem unverhofften Wiedersehen. 

Zahlreiche Wendungen halten die Spannung im Gang, hinzu kommen die exzentrischen Eigenheiten von Leos neuen Kollegen, die gegen alle Erwartungen auch einiges zu den inoffiziellen Ermittlungen ihrer neuen Abteilungsleiterin beitragen können. Das Setting der lost places und urban exploration sorgt zudem für eine besondere Atmosphäre. Hinzu kommen die "verlorenen Seelen" , die sich um hoffnungslose Fälle kümmern sollen. Mit "Stille Falle" hat Anders de la Motte zweifellos die Grundlage einer vielversprechenden neuen Serie gelegt.


Anders de la Motte, Stille Falle

Droemer Knaur 2023

528 Seiten, 16,99

978-3-426-30953-7

Comments

Popular posts from this blog

Neuer Fall und neue Liebe für Hulda Gold

 Anne Stern schickt mit dem Roman "Die Lichter der Stadt" die Hebamme Hulda Gold bereits zum sechsten Mal auf Ermittlungen im Berlin der 1920-er Jahre. Denn auch wenn das Aus der wechselhaften Beziehung zu einem Kriminalbeamten schon eine Weile her ist - Hulda kann es einfach nicht lassen, sich einzumischen, wenn einer ihrer Schützlinge in Not scheint.  Dabei ist "Fräulein Gold" selbst alleinerziehende Mutter. Seit dem Vorgängerroman "Rote Insel" ist sie zu einer  Frauenberatungsstelle am Nollendorfplatz gewechselt und trauert der Arbeit, ja Berufung, als Hebamme nach. Doch wie kann sie ihren geliebten Beruf bei Tag und Nacht ausüben, wenn sie auch noch die dreijährige Meta versorgen muss? Schon der Dienst in der Beratungsstelle kann kompliziert werden. In "Die Lichter der Stadt" ist mittlerweile das Jahr 1929 angebrochen. Um den Nollendorfplatz herrscht diverses, manchmal wildes Leben. Doch auch Liebe liegt in der Luft: Huldas väterlicher Freund

Mysogynie und perfekte Ehefrauen

 Hinter der perfekten Kleinstadtidylle kann die Ehehölle lauern. Doch die bekommt keiner mit, bis die junge Mutter Melissa in Carla Kovachs Thriller "Die letzte Stunde" im eigenen Heim brutal ermordet wird. Die Obduktion der Toten weckt bei der leitenden Ermittlerin Gina Harte Argwohn - Melissa weist Spuren von Misshandlungen auf, die auf mehr als einvernehmliche kinky Sexspiele mit Ehemann Darrel hinweisen. Harte, die selbst einen gewalttätigen Ehemann hatte, ist sofort alarmiert. Doch der erste Fall, den sie selbständig leiten darf, hat es in sich: Der Ehemann, den sie nur zu gerne als Tatverdächtigen sehen würde, hat ein Alibi. Der Täter scheint mit großer Umsicht vorgegangen zu sein, DNA-Spuren gibt es nicht und es verdichten sich Hinweise, dass er einen Schutzanzug getragen hat, ähnlich dem der Spurensicherer. Zudem finden die Ermittler ein Handy, das Hinweise auf eine Affäre der Toten gibt. Ist der Lover der Mörder, weil Melissa ihren Ehemann nicht verlassen wollte? Und

Tödliche Zugfahrt zur Weihnachtszeit

  Mit dem Titel "Mord im Christmas Express" hat Alexandra Benedict gleich das Thema und die Messlatte ihres Weihnachtskrimis hoch angesetzt. Denn wer denkt da nicht gleich an die britische Krimi-Queen Agatha Christie und den "Mord im Orient-Express", der Meisterdetektiv vor solche Herausforderungen stellt? Und der obendrein in gleich zwei Verfilmungen als hochkarätig besetztes spannendes Kammerspiel beeindruckte. Da werden jedenfalls gleich Assoziationen und Erwartungen geweckt. Die Herausforderungen, vor denen Benedicts Protagonistin Roz steht, sind nicht nur dem Fall geschuldet. Denn eigentlich ist die Polizistin frisch pensioniert. Farewell, Metropolitan Police, hello Ruhestand mit gerade mal 59 Jahren, dafür aber voller Vorfreude auf das Enkelkind, das schon bald geboren werden soll. Ein wenig hofft Roz, dass der neue kleine Mensch auch hilft, das Verhältnis zu ihrer Tochter zu entspannen. Die kam bei der alleinerziehenden Mutter häufig zu kurz, ganz abgesehen v