Anne Stern schickt mit dem Roman "Die Lichter der Stadt" die Hebamme Hulda Gold bereits zum sechsten Mal auf Ermittlungen im Berlin der 1920-er Jahre. Denn auch wenn das Aus der wechselhaften Beziehung zu einem Kriminalbeamten schon eine Weile her ist - Hulda kann es einfach nicht lassen, sich einzumischen, wenn einer ihrer Schützlinge in Not scheint.
Dabei ist "Fräulein Gold" selbst alleinerziehende Mutter. Seit dem Vorgängerroman "Rote Insel" ist sie zu einer Frauenberatungsstelle am Nollendorfplatz gewechselt und trauert der Arbeit, ja Berufung, als Hebamme nach. Doch wie kann sie ihren geliebten Beruf bei Tag und Nacht ausüben, wenn sie auch noch die dreijährige Meta versorgen muss? Schon der Dienst in der Beratungsstelle kann kompliziert werden.
In "Die Lichter der Stadt" ist mittlerweile das Jahr 1929 angebrochen. Um den Nollendorfplatz herrscht diverses, manchmal wildes Leben. Doch auch Liebe liegt in der Luft: Huldas väterlicher Freund, der Kioskbetreiber Bert, lernt einen Mann kennen, der schon am ersten Abend angesichts gleicher Interessen als möglicher Seelengefährte und mehr erscheint. Hulda selbst lernt den Pädagogikprofessor Max kennen - wenig später muss sie erfahren, dass er verheiratet ist. Doch die wechselseitige Anziehungskraft ist stark.
Zeit für kriminalistisches Engagement hat Hulda dennoch. Denn im Rahmen einer Enbruchs- und Raubserie wird auch Bert überfallen. Dann ist da noch die Sorge um die junge Schauspielerin Milli, die mit ihrer kleinen Tochter in die Beratungsstelle kommt. Das Kind ist apathisch, wiegt viel zu wenig - Hulda befürchtet Vernachlässigung. Doch gleichzeitig ist ihr Milli sympathisch, sie ahnt, dass die junge Mutter in einer schwierigen Situation steckt. Doch wie dramatisch die Lage tatsächlich ist und welche Verbindungen sich dabei auftun, das wird Hulda erst nach und nach erfahren.
Hatte Stern schon zuvor den Zeitgeist der Weimarer Republik immer wieder thematisiert, so wird nun der Glanz der Großstadtlichter zunehmend vom Erstarken der Nationalsozialisten überschattet. SA-Aufmärsche, mehr Bezüge zu historischen Personen von Bertold Brecht, Alfred Kerr und bis Gustav Stresemann ranken sich um die Romanhandlung. Sogar Erich Kästner und sein Gedicht "Sachliche Romanze" finden Eingang in das Buch.
Doch während manche dieser Bezüge fast augenzwinkernd daher kommen, wird der Band zunehmend düsterer angesichts eines Antisemitismus, der sich immer öfter in Gewalt ausdrückt. Beschrieb Stern in einem der Vorgängerbände ein Pogrom im Scheunenviertel, wird nun sogar Huldas Vater trotz Prominenz und Status Opfer eines Angriffs.
Mir gefällt an Sterns Romanen die Verbindung einer spannend-unterhaltsamen Handlung mit der sympathischen Protagonistin und den politischen und gesellschaftlichen Zuspitzungen der späten Weimarer Republik. Es steht allerdings zu fürchten, dass das Berliner Pflaster für Hulda Gold immer gefärhrlicher werden dürfte, je eher das Jahr 1933 rückt.
Anne Stern, Fräulein Gold. Lichter der Stadt
Rowohlt Polaris, 2023
464 Seiten, 18 Euro
9783499009181
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